Es ist Sonntagnachmittag am ersten
Juniwochenende. Ich sitze im ICE, der in Berlin am Hauptbahnhof steht und warte
auf die Abfahrt, die sich aufgrund technischer Störungen verspätet. (Nein,
erstaunlicherweise hängt es nicht mit der Klimaanlage zusammen, auch wenn es
das erste Mal in diesem Jahr über 30°C warm ist.)
Auch wenn sich inzwischen eine leichte Gänsehaut auf meinen Armen und Beinen
bildet, bin ich überzeugt: Ich fahre Zug, denn das ist für mich immer noch die
ökologischste Möglichkeit zu Reisen! Und es wäre eine Schande die vergangenen
Tage nicht im Sinne des Natur- und Umweltschutzes enden zu lassen.
Von Freitag bis heute waren in Berlin die FÖJ Bundesaktionstage (BAT) und ich
mit dabei.
Vor circa einem Jahr habe ich mich entschieden etwas Gutes tun zu wollen.
Gefühlt hätte ich mit meiner Motivation die Welt retten können. Bin ich in
meinem Freiwilligen Ökologischen Jahr zum Weltretter geworden?
Durch meinen Alltag im Naturkindergarten bringe ich den Kindern die Natur ein
Stück näher, zeige ihnen was für Pflanzen und Tiere es gibt, sie lernen was
unterschiedliche Jahreszeiten bedeuten und ich hoffe, dass unsere Natur dadurch
für sie schützenswert wird. Dass sie die Flora und Fauna bestaunen und
respektieren, anstatt sich verachtend und bestimmend über alle Ressourcen
hinwegzusetzen.
Denkanstoß gegeben, okay, aber noch nicht die Welt gerettet!
Deswegen bin ich mit dem Wunsch, mein Anliegen auf eine andere Dimension zu
bringen zu den BAT gefahren.
Thema unserer drei Tage war Lebensmittelverschwendung. Welcher Film passte da besser als Start und Input als
„Taste the Waste“? Den kann man auch auf Netflix gucken (Und sollte man nach
dem lesen dieses Artikels auch!), wir haben uns dazu vor einer Leinwand
versammelt und während der Beamer warmlief,
kam von hinten plötzlich ein Mann nach vorne.
Ein bisschen erinnerte er mich an einen Piraten, mit seinem etwas längeren,
grauen Haar, der gebräunten, faltigen Haut, schwarzgrauen Kleidung und einem
Funkeln in den Augen.
Mit holländischem Akzent begann er zu reden:
„Wisst ihr wer ich bin? Nein? Aber kennt ihr „Fläming Kitchen“? Auch nicht?“
Ich wusste weder wer der Mann war noch was die
„Fläming Kitchen“ sein sollte.
„Ich koche dieses Wochenende das Essen für euch. Die“ Fläming Kitchen“ ist
meine Küchencrew, die sozusagen aus dem Film entstanden ist, ich habe daran
mitgewirkt.“ Ganz nüchtern sagte er das.
Überraschung kam in mir auf, danach Ehrfurcht.
Denn immerhin wusste ich, das dieser
Film in viele Sprachen übersetzt wurde, nicht nur auf Deutschen Kinoleinwänden
lief, mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde und Fakten nennt, die nicht
übersehen werden können.
Bevor ich das alles realisiert hatte,
war Wam Kat schon wieder nach hinten verschwunden und der Film ging los.
Danach gab es Salat, Reis und
Linsencurry für alle.
Die Zutaten dafür allesamt gerettet.
Nach dem zuvor erlangten Wissen kaute
man jeden Bissen mit bedacht und mit jedem Bissen ratterten
die Zahnräder im Kopf: Wie kann das alles sein? Wieso habe ich bisher in ganz
normalen Supermärkten eingekauft, obwohl ich doch eigentlich wusste, dass dort
so viel weggeworfen wird? Wieso habe ich eine Gurke noch nie skeptisch
betrachtet, weil sie so gerade ist? Wieso wurde noch nichts unternommen, wenn
Müllcontainer voller Lebensmittel vernichtet wurden? Wie kann es sein, dass
Kleinbauern in Lateinamerika dadurch an Malaria sterben, dass sie sich keine
Medizin leisten können, weil europäische Konzerne ihnen die Felder abgesprochen
haben? Wie können wir als großzügige und
fortschrittliche westliche Länder zulassen, dass unser Anspruch die
Armut und Hungersnot vorantreibt, wo wir doch immer für Gerechtigkeit sind?
Wieso widern wir uns nicht selbst an?
Ich tat es in diesem Moment!
Aber dann fragte ich mich: Sind es wirklich unsere Ansprüche, dass eine
Kartoffel nur eine bestimmte Größe hat? Die Tomate nur einen bestimmten Rotton?
Das Mindesthaltbarkeitsdatum frühestens in sechs Tagen erreicht ist, wenn ich
ein Produkt kaufen? Generell diese Sache mit dem MHD: Würde ich mich davon
abschrecken lassen, wenn es auf Teebeuteln, die ich kaufen will, schon
überschritten ist?
Nein! Ich kann diese Fragen mit einem eindeutigem NEIN beantworten.
Mit sehr gutem Essen im Bauch, einer gestärkten Meinung im Herz und guter Musik
im Hintergrund malte ich mir ein Demoschild.
Am nächsten Morgen gab es Frühstück
mit Backwaren vom Vortag (vom Bäcker gerettet). Die Brötchen waren frischer als
die, die es bei mir zu Hause manchmal gibt. Ich habe die vollen Körbe, die
Riesen Auswahl, die wir zwischen den „Resten“ hatten,
die zum Wegwerfen gedacht waren immer noch vor
Augen. Wir waren über 130
Personen, die voll guten Gewissens zugeschlagen
haben und am Ende blieb noch etwas übrig, von den Backwaren, die wir von
nur einem Geschäft
abgeholt hatten.
Ich gesellte mich zu der Küchencrew und teilte meine schockierende Erkenntnis
mit ihnen. Ein Koch lachte über die Musik hinweg, schnippelte gut gelaunt
weiter einwandfreie Bohnen aus einer Kiste, die wir über Foodsharing bekommen hatten und erklärte: „Essen, das für den Müll
bestimmt ist, findet man immer überall genug. Nur wenn wir manchmal für mehrere
Tausend Leute kochen wird es mit der Vorbereitung schwierig. Das Problem hatten
wir zumindest am Anfang. Dann haben wir einen Aufruf gestartet zur
„Schnippeldisco“ wo alle gemeinsam das Gemüse schneiden, wir dann damit kochen
und dann gibts Essen und Party für alle. Das klappt so gut, dass wir inzwischen
bei Veranstaltungen oft mehr Schnippler als Gemüse haben.“
Meine Vorfreude auf unsere für den Abend geplante Schnippeldisco stieg.
Vorher erweiterten, vertieften und konkretisierten wir unser bisheriges und vom
Vortag gesammeltes Wissen: Welches Konzept hat der Berliner Supermarkt Sirplus?
Stimmt meine Vorstellung vom Containern? Wie mache ich gerettete Lebensmittel
haltbar? Welche rechten Tendenzen gibt es in der Öko Szene?
Leider konnte ich nur zwei von diesen und noch weiteren angebotenen Workshops
besuchen. Dadurch verpasste ich auch die nächste Lebensmittelabholung am
Wochenmarkt, bekam aber das kulinarische Ergebnis
zu genießen.
Die Stimmung heizte sich (wie das Wetter) auf. Wir euphorisierten uns
gegenseitig, es machte nichts aus, dass ich zur Ankunft am Freitag niemanden
kannte, erst recht nicht Abends, wenn es hieß: „Partyzipation“ oder spontanes
Stockbrot, weil bei der Lebensmittelspende Hefeteig dabei war.
Am letzten Morgen aß ich eine
Kirsche, die ich mir von der gestrigen Ausbeute mitgenommen hatte.
Bedächtig kaute ich sie und ärgerte mich über dieses Paradoxon: Bei uns in
Deutschland gibt es zurzeit noch keine Kirschen. Diese hier musste für den
Verkauf importiert worden sein. Hat Unmengen CO2-Emissionen verursacht, wurde
von Arbeitskräften in Plastik verpackt und sollte hier dann weggeschmissen
werden, während im Ursprungsland die Menschen durch unseren Konsumwahn
perspektivlos werden.
Jetzt war auch meine Überzeugung wieder hellwach und ich bereit für die
anstehende Demonstration durch Berlin!
Schon zur Anfangskundgebung am Startpunkt blieben die Leute stehen, als wir
FÖJler*innen aus ganz Deutschland die Regierung aufforderten:
Wir fordern ein „Anti-Wegwerfgesetz“ damit nicht weiter unnötig viele
Lebensmittel weggeworfen und verschwendet werden!
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich an ihre gesetzten Ziele zu halten,
ihre Verpflichtungen gegenüber der EU und UN, die Lebensmittelverschwendung bis
2030 um mindestens 50% zu reduzieren, einzuhalten!
Wir fordern konkrete Handlungen und zwar jetzt!
Wir machten uns auf den Weg, vorbei am Ernährungsministerium.
Wir riefen „STOP THE WASTE, START THE TASTE!“
Wir sangen zu der Melodie von „Hejo
spann den Wagen an“ „Währt euch, leistet Widerstand, gegen die Verschwendung
hier im Land, rettet unser Essen, rettet unser Essen!“
Wir tanzten, zeigten uns und trafen am Brandenburger Tor auf noch mehr
Gleichgesinnte, beim diesjährigen Umweltfestival. Plötzlich war
Lebensmittelverschwendung nur einer von vielen Umweltaspekten, für die sich ein
großer Teil der Bevölkerung inzwischen deutlich ausspricht.
Das Gefühl war bei mir auf einmal ganz
stark: Ich dachte bisher „Okay wir werfen viel Essen weg, aber nur das, was
keiner mehr essen will und das würde eh nicht für alle reichen, so wie es immer
behauptet wird.“
Doch, würde es, sogar 3x, ich habe die Mengen gesehen!
Ich bin mit meiner Denkweise nicht allein, die Bereitschaft zum freiwilligen
ökologischen Handeln ist da und sie ist stark und wird so schnell nicht
verschwinden!
Zufrieden machte ich mich irgendwann später auf den Nach-Hause-Weg.
An einer Ampel kam ich nicht weiter. Der Strom an Radfahren, die bei der
Sternfahrt des Festivals mitmachten riss
auch nach 20 Minuten nicht ab.
Während ich staunte, kam mir plötzlich ein altbekannter Spruch in Erinnerung:
„Du bist, was du isst!“
Bisher hatte ich ihn auf Gesunde
Ernährung bezogen. Wenn du gesund isst, bist du gesund. Wenn ich wie die
vergangenen Tage Essen aus Mülltonnen gegessen habe, bin ich dann Müll?
Nein! Denn das Essen in den Mülltonnen ist kein Müll! Das Essen ist gerettet!
Also habe ich mein Ziel erreicht: für die letzten drei Tage war ich eine
Retterin!
Vielleicht keine Weltretterin, aber zumindest eine Lebensmittelretterin und
vielleicht auch eine Meinungsretterin, die mit ihrer Botschaft noch ein paar
mehr Menschen erreicht und zum Handeln gebracht hat.
Für den Moment ist das unglaublich viel und ich habe nicht vor, solche Momente
weniger werden zu lassen, auch wenn mein FÖJ im August endet.
von Ida Mittag